Es war im Herbst 2024. Ich war vollkommen sicher. Nicht der geringste Zweifel nagte an mir: In Franks Pétanque würde es eine Rubrik zum Thema Regeln geben. Nein, musste! Der Grund dafür waren meine Erfahrungen, die ich in den letzten zwei Jahren gemacht hatte, seit ich wieder regelmäßiger Pétanque spielte.
Puh, das wird keine einfache Aufgabe werden. In diesem Artikel möchte ich einerseits auf die Kernbotschaft fokussieren: Ich werde für ein bedingungsloses Einhalten der Pétanque-Regeln plädieren. Vielleicht sogar leidenschaftlich.
Andererseits möchte und werde ich eine Geschichte erzählen. Diese wird weder kurz noch knapp ausfallen. Kurz und knapp zu schreiben, das ist viel zu aufwändig – und wird nicht jeder Geschichte gerecht. Ich fordere also Neugier, Geduld und somit auch Zeit ein von meinen LeserInnen.
Die Doublette-Partnerin, die sich gut in der digitalen Kommunikation und mit den eher kurzen Aufmerksamkeitsspannen vieler Menschen in der heutigen Zeit auskennt, riet mir, ich solle die Kernbotschaft gleich am Anfang herausstellen. Damit meint sie natürlich, dass es nur wenige LeserInnen bis zum Ende des Artikels schaffen werden. Wie immer wird sie Recht haben. Also mache ich es:
Leute, haltet euch an die Regeln! Verdammt noch mal!
So, jetzt kann ich endlich loslegen.
Die Geschichte
Damals, es war im Frühjahr 2022, fühlte ich mich fast wie in einem anderen Universum. Ich hatte Anschluss an eine kleine Gruppe BoulistInnen gefunden, die im hessischen Brachttal spielten. Was hatte sich gegenüber früher geändert? Nun, meine nach langer Zeit hervorgekramten Kugeln hielten einer Überprüfung stand und waren immer noch rund. Ich befürchtete allerdings nach all den Jahren ohne Kugelwurfpraxis ein eher eckiges statt elegantes Spiel meinerseits.
Apropos rund: Was ich früher gut beherrschte – den eleganten Schwung mit der Schuhspitze, mit dem ich den Wurfkreis in Sand und Kies zog – konnte ich vergessen. Es wurden schnöde Wurfkreise aus Kunststoff benutzt. Gut für die Händler mit Boule-Zubehör, schlecht für Schuhgeschäfte.
Diesen Plastikmüll, den wir bekanntlich grundsätzlich vermeiden sollten, hatte ich beim Pétanque schon mal irgendwann am Rande wahrgenommen. Nun stand ich plötzlich mittendrin. Aber die Regeln hatten sich im Vergleich zu meiner früheren aktiven Zeit nicht nur in Sachen Wurfkreis verändert. Mit dem internationalen Reglement aus den 1980er Jahren, das mein Pétanque geprägt hatte, wäre ich im Jahr 2022 schon beim Wurf des Cochonnets nicht weit gekommen.
Früher war nicht alles besser!
Zu meiner Zeit hätte ich die Zielkugel für eine gewollt kurze Aufnahme erst einmal vorsichtig ausgeworfen. Sehr vorsichtig! Das hätte dann so ablaufen können:
- Erste Szene: Wurf des Cochonnets auf kurze Distanz, der Gegner moniert. Wir messen. 5,90 m. Zu kurz, klar. Na und?
- Zweite Szene: Ich nehme das Cochonnet auf und werfe es erneut. Der offensichtlich mit einer bockeligen Blindheit geschlagene Gegner ist immer noch nicht einverstanden. Das aufwendige Prozedere des Messens mit einem klapprigen, natürlich viel zu kurzen Maßband wiederholt sich. Ooops! Wieder ein Fehlversuch: ärgerliche 5,97 m!
- Dritte Szene: Diesmal landet die Buchsbaumkugel (übrigens mit monströsen 35 mm Durchmesser) endlich wie gewünscht auf sechs Metern. Natürlich lässt der Gegner wiederum nachmessen: 6,03 m! Blindfisch, wusste ich doch gleich! (Dass ich dann meine erste Kugel auf siebeneinhalb Meter werfe, ist glücklicherweise nicht Teil dieser Geschichte.)
So lief das damals oft – und war von den Regeln gedeckt.
Natürlich wissen alle LeserInnen auf Anhieb, warum das heute nicht mehr möglich ist und haben Artikel 6 Absatz 161 des „Règlements officiel pour le Sport de Pétanque“ selbstverständlich im Original oder der Übersetzung2 auswendig parat.
Das übergroße Cochonnet war damals übrigens ebenfalls erlaubt.
Mit meinem gerade beschriebenen Vorgehen, das auf antiquierten Regeln beruht, hätte ich heute nicht nur zwei Vorschriften gebrochen, sondern möglicherweise bereits vor der ersten geworfenen Kugel eine oder zwei gelbe Karten vorgehalten bekommen.
Gelbe Karte? Was sollte denn das? Hatte sich ein Fußballschiedsrichter auf den Bouleplatz verirrt und hielt mich für einen übel foulenden Linksverteidiger?3
Da gab es also mehr als nur die eine nebensächliche Neuerung mit den Wurfkreisen. Ich musste mich folglich mit dem aktuellen Regelwerk beschäftigen – und machte das so, wie es für die Freizeitspiele in unserem bald neu gegründeten Verein ausreichte: oberflächlich.
Auf diese Weise lernte ich immerhin, dass heutzutage in manchen Fällen immer noch ohne Plastikringe gespielt werden darf, aber auch, das ich an meinem 35-mm-Cochonnet noch ordentlich schmirgeln müsste, um es einsetzen zu dürfen.
Lizenzturnier
Im Winter 2023/2024 nahm ich an dem hessischen Tête-à-tête-Wettbewerb namens „Coupe d’Hiver“ teil. Es war mein erstes Lizenzturnier seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Gespielt wurde in mehreren Runden: Man verabredete sich in der Regel mit seinem Gegner oder seiner Gegnerin zu den jeweils drei Partien. So weit, so wenig spannend.
Allerdings bemerkte ich schnell, dass weder ich noch meine KontrahentInnen auch nur annähernd souverän mit dem Regelwerk umgingen. Ich hatte vieles von früher vergessen und war zudem nicht sicher, was von dem Rest der blassen Erinnerung überhaupt noch gültig war. Mein in Brachttal erworbenes Wissen für Freizeitspiele war nicht kugelfest und reichte ersichtlich nicht aus.
Klare Kante?
Da ich im Grunde meines Wesens ein zweifelnder Mensch bin, tat ich genau das: Ich zweifelte. Zuerst zweifelte ich an meiner Regelkenntnis, wenn meine Gegner nicht meiner Meinung waren. Ich verhielt mich vorsichtig und ordnete mich in den Turnierspielen unter. Der Auslöser war diese Situation:
Bei einer Begegnung hatte mein Gegner Heimrecht. Er durfte den Platz bestimmen, auf dem wir spielten. In diesem Fall war das ein einzelnes, kleines, abseits gelegenes Spielfeld in einem Park. Zwei Bänke und ein Mülleimer säumten die etwas heruntergekommene Parkidylle — ebenso wie eine Einfassung der sandigen Spielfläche durch niedrige Beton-Gehwegplatten.
„Die Kante ist aus“, so lautete die Ansage meines Gegners. Mein ganz zarter Einwand, dass eine eventuelle, ja vielleicht sogar nur unmerklich wahrnehmbare, ganz zarte Berührung einer Kugel mit der Betonkante ein äußerst zweifelhaftes Kriterium sei, um die Ungültigkeit einer Kugel festzustellen, führte umgehend zu erstem, unübersehbarem Unmut meines Gegners. Als ich dann noch vorsichtig darauf hinwies, dass an manchen Stellen eine klare Betonkante wegen angehäuften Sands nicht auszumachen sei, bemerkte ich einen deutlich erhöhten Blutdruckwert bei meinem Kontrahenten. Vielleicht auch bei mir, dachte ich, in mich hineinhorchend.
Dabei hatte ich das stärkste Argument mangels meiner schwachen Regelkenntnis noch nicht einmal parat: In Artikel 19 Absatz 2 des internationalen Reglements steht eindeutig, dass eine Kugel, die das Spielfeld verlässt, nur dann ungültig wird, wenn es sich um ein Spiel mit Zeitbeschränkung handelt, das auf einem zugeteilten Spielfeld ausgetragen wird. Keiner dieser Punkte wurde im vorliegenden Fall erfüllt. Mein Gegner wollte also offensichtlich die Pétanque-Regeln umschreiben. Was würde ihm noch einfallen?
Halt die Klappe!
Zumindest die Stimmung war bereits vor der ersten gespielten Kugel im Aus. Und das eindeutig. In dem Augenblick entschied ich mich dafür, die Situation schlicht und einfach zu ertragen. Halt die Klappe, sagte ich mir. Ich wusste damals noch nicht, dass ich diese Einstellung für die nächsten anderthalb Jahre weitgehend beherzigen sollte.
Ich ahnte, dass so gut wie alles, was bis dahin passiert war, nicht den Vorgaben für das Turnier entsprach, die eindeutig waren. Da waren zum einen die spezifischen Regeln des Veranstalters – es handelte sich um den Hessischen Pétanque-Verband – die besagten, dass im vorliegenden Fall der Gastspieler entscheiden könne, ob „Terrain Libre“ gespielt würde.4 Diese Regeln hatte ich gelesen, aber das Erinnern fällt mit zunehmendem Alter nicht leichter. Einen Ausdruck mitzunehmen hatte ich ebenfalls vergessen. Der Blutdruck meines Gegners hätte sich vermutlich auch nicht normalisiert, wenn ich ein paar Papiere aus meiner Tasche gezogen hätte.
Da war dann aber auch noch das bereits erwähnte internationale Reglement – und meine nur begrenzte Sicherheit auf diesem Feld. Dabei hatte der Veranstalter ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es zu beachten sei.5 Mein Fehler, dass ich nicht darauf vorbereitet war. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass mein Gegner mit einem eigenen Regel-Set aufwarten würde.
So monierte ich nichts – auch wenn ich allen Grund dafür gehabt hätte: Spielfelder sind laut Reglement mit Schnüren zu begrenzen.6 Schnüre gab’s auf diesem Platz aber ganz bestimmt nicht, da bestand sicher Einigkeit.
Gesetzt den Fall, wir hätten über Schnüre diskutiert, hätte sich mein Gegner auf die „Erläuterung“ des DPV berufen können, nach der auch andere Spielfeldbegrenzungen denkbar sein sollen. Dieser Regelzusatz des DPV weicht die klare Kante der internationalen Regeln in Sachen Spielfeldbegrenzung (Schnüre!) völlig überflüssigerweise auf.
In einem konkreten, mir durch eigenes Spiel bekannten Fall wird die Schnüre durch zerbröselte Kreide ersetzt. Wie will man da erkennen, ob eine Kugel im Aus ist oder nicht?
So etwas wird dann von den Verantwortlichen im Bundesverband vermutlich als pragmatische Lösung verkauft. Die Erkenntnis, dass bereits die überaus schwammige Formulierung der Erläuterung (Was sind „andere Materialien“, was bedeutet „geordneter Spielverlauf“ in diesem Zusammenhang?) dem klaren Gedanken der internationalen Regel zuwiderläuft, ist dem DPV wohl nicht bewusst oder gleichgültig.
Festzuhalten ist: Hätte sich mein Gegner auf diese „anderen Materialien“ berufen, wäre ich nicht vorbereitet gewesen und hätte meine Klappe gehalten. Nun tat er dies nicht – ich vermute, einerseits aus Unkenntnis der Regeln, andererseits dürfte er es gewohnt gewesen sein, eigene Regeln aufzustellen oder das Regelwerk insgesamt zum Gegenstand von Verhandlungen zu machen.
Trotzdem ist der Aspekt regeltechnisch interessant: Mein Gegner hätte mit einer solchen Argumentation wiederum die Regeln verbogen, weil eine Betonkante keine Markierung sein kann, sondern ein Hindernis9 darstellt. Ein Hindernis kann aber nicht dazu führen, dass eine Kugel bei Berührung mit diesem als ungültig anzusehen ist.10
Eigentlich alles im grünen Bereich, sollte man denken. Keine Schnüre – also „Terrain Libre“. Thema erledigt. Wie in diesem Fall – und diversen anderen, die in den nächsten Monaten folgen sollten – stand die Realität jedoch in teils krassem Gegensatz zu den Regeln.
Interne Richtlinie
Meine Zurückhaltung sollte also die nächsten anderthalb Jahre meiner Turnierspiele bestimmen. Ich hatte beschlossen, eine passive Haltung in Sachen Regeln einzunehmen. Zwar bat ich immer mal wieder um die Beachtung von Artikel 17 Absatz 3 der Pétanque-Regeln, wenn manche SpielerInnen meinten, sich zwischen Wurfkreis und Cochonnet, zu nahe an demselben oder sogar in Sichtlinie direkt hinter ihm aufhalten zu müssen, wenn mein Team eine Kugel spielen musste.11
Allerdings ließ ich mich nicht auf Diskussionen ein, wenn mein Hinweis ignoriert wurde.
Meine Passivität galt natürlich nicht beim Messen und Zählen der Punkte. Ich spielte nach wie vor engagiert und strebte danach, auf dem Platz präsent zu sein – aber ich hielt es beispielsweise ohne Gegenrede aus, wenn meine GegnerInnen auf dem Platz rauchten oder sich besoffen.
An eine Ausnahme im Jahr 2024 erinnere ich mich allerdings: In einem Doublette litt die gegnerische Spielerin nicht nur unter ersichtlicher Regelunkenntnis, sondern auch an einer auffälligen, ja fast hektischen Nervosität. Als untrüglichen Ausdruck derselben zündete sie sich auf dem Platz eine Zigarette an. Die Frau hatte bereits mehrfach gegen Artikel 17 des Reglements verstoßen. Sie zeigte sich deswegen uneinsichtig. Mir reichte es.
Um die Situation nicht eskalieren zu lassen, stellte ich ihrem Spielpartner in einiger Entfernung von der Raucherin leise die Frage: „Spielen wir eigentlich nach Regeln oder nicht?“ „Ja, klar“, lautete seine Antwort. Daraufhin bat ich ihn dafür zu sorgen, dass das Rauchverbot eingehalten wird. Hat geklappt.
Aber warum in aller Welt dachte die Spielerin, dass Artikel 39 Absatz 812 auf sie nicht zuträfe? Warum musste ich diese Frage überhaupt stellen? War die Tatsache, dass es bei dem Turnier keine SchiedsrichterInnen gab, ein Blankoscheck, um unliebsame Regeln zu missachten?
Ist das überhaupt wichtig?
Nun kann man solche Situationen als nebensächlich einstufen. Ich finde aber, dass das nicht gerechtfertigt ist. Zu oft führen Regelverstöße dazu, dass daraus eine unnötige Emotionalität entsteht. Die Konzentration auf das Spiel, die Technik, die Taktik und sogar der Zusammenhalt im Team können darunter leiden.
Natürlich ist es zulässig zu argumentieren, dass so etwas zum Spiel gehöre und auszuhalten sei und man sich eben besser auf solche Fälle vorbereiten müsse. D’accord. Zumindest teilweise: Ich muss für mein Spiel ganz bestimmt lernen, dass gegnerische Regelverstöße nicht meine spielerischen und taktischen Fähigkeiten beeinträchtigen. Ebenso muss mein Team in der Lage sein, Regeldiskussionen angemessen zu verarbeiten. Es dürfen keine Verwerfungen in meiner Mannschaft entstehen, wenn wir uns gegen unfaires Spiel wenden.
Das ist die eine Seite, die betrachtet und beachtet werden muss. Die andere ist, die Unsportlichkeit des Gegners auch als solche einzustufen.
Ja, es ist als Unsportlichkeit einzustufen, wenn SpielerInnen das Regelwerk nicht kennen, es deshalb nicht einhalten und aufgrund eines Hinweises eine Szene veranstalten. Sogar eine grobe Unsportlichkeit ist es, wenn SpielerInnen sich trotz Kenntnis des Regelwerks nicht an eben jenes halten.
Regelkenntnis ist ein wichtiger Faktor für ein faires Spiel. Fairness wird vom Bundesverband DPV in § 2 Absatz 1 seiner Satzung eingefordert:
„Zweck des DPV ist die landesverbandsübergreifende Organisation und Förderung des Pétanquesports als Leistungs‑, Breiten- und Freizeitsport unter Beachtung der Grundsätze von Fairness und Sportlichkeit.“ 13
Was geht mich das an?
Für wen aber gilt die Vorgabe des DPV? Ganz eindeutig für alle Pétanque-SpielerInnen, die einem Verein angehören, der Mitglied in einem Landesverband ist. Diese SpielerInnen unterliegen durch die Vereinsmitgliedschaft den Vorschriften ihres Landesverbands. Jeder Landesverband ist seinerseits Mitglied im Bundesverband DPV. Dadurch erkennt der Landesverband die Vorgaben des DPV zweifellos an.
Die Grundsätze von Fairness und Sportlichkeit sollten auch ohne einen Hinweis des Verbands für alle selbstverständlich sein. Durch die explizite Nennung in der Satzung des DPV gibt es allerdings für jede organisierte Spielerin und jeden organisierten Spieler keinen Raum mehr, mit einem eigenen Regel-Set auf den Platz zu kommen.
Irgendwelchen Ausreden wie „ich spiele ja nur zum Spaß“ tritt der DPV vernünftigerweise entgegen, indem er Leistungs‑, Breiten- und Freizeitsport ausdrücklich auf eine Ebene stellt. Selbstverständlich erkennt der DPV an, dass es verschiedene Ausprägungen des Pétanque gibt – macht aber gleichzeitig klar, dass selbst FreizeitsportlerInnen der eindeutigen Direktive eines fairen Spiels unterliegen. Es dürfte doch wohl unstrittig sein, dass diese Grundsätze erst Recht auf einem Turnier eines Vereins gelten, der Mitglied in einem Verband ist, oder?
Wenn also jemand auf einem Turnier auf die Idee kommt, eigene Regeln aufstellen zu wollen, dann ist das ein klarer Verstoß gegen die für alle geltenden Grundsätze des Bundesverbands.
Vielleicht gibt es aber irgendwo eine „Erläuterung“, die erlaubt, rechtzeitig vor Turnierbeginn mit intensivem Alkoholkonsum zu beginnen, auf diese Weise die Erinnerung an das Regelwerk zu unterdrücken – um dann während einer Partie entspannt zu rauchen?
Wo ist die Grenze?
Wir haben es auf unseren Bouleplätzen viel zu oft mit teils gravierender Unkenntnis der Regeln zu tun. Das kann man bei einem Spiel mit AnfängerInnen noch nachvollziehen und als erst einmal unerheblich einstufen. Für Ligaspiele und bei Turnieren – unabhängig ob es sich um lizenzpflichtige Veranstaltungen handelt oder nicht – kann allerdings nicht mal eben locker darüber hinweg gesehen werden, dass teils selbst grundlegende Regeln nicht ernst genommen werden.
Wie oft habe ich ein „Stell dich doch nicht so an!“ gehört? Zu oft!
Die entscheidende Frage lautet: Wo ist die Grenze? Wenn meine GegnerInnen das von ihnen zu kurz geworfene Cochonnet mit einem lässigen Kick auf sieben Meter befördern – und ich das gefälligst akzeptieren soll – darf ich dieses Cochonnet dann auch nach drei gespielten Kugeln auf acht Meter kicken, weil da meine beiden verlegten Kugeln liegen?
Anders formuliert: Auf welche Regelverstöße einigt man sich vor Spielbeginn? Oder meinen die lässigen BoulistInnen, denen manche Regeln erkennbar gleichgültig sind, dass es gar keiner Einigung bedarf und „ihre Regeln“ ohne erklärende Worte und ganz selbstverständlich zu akzeptieren sind?
Die Antwort liegt auf der Hand und ist so offensichtlich, dass ich mich schäme, sie überhaupt aufzuschreiben: Alle halten sich an die bestehenden Regeln. Niemand zwingt der anderen Mannschaft seine Vorlieben auf, die nicht vom Regelwerk abgedeckt sind. So einfach ist das. Wenn es keine Schnüre zur Begrenzung des Spielfelds gibt, dann wird Terrain Libre gespielt und eine Betonkante ist weiterhin lediglich ein Hindernis. Was ist daran schwierig?
Durch die Mitgliedschaft in einem dem DPV angeschlossenen Verein besteht eine Verpflichtung für alle BoulistInnen, das Regelwerk zu kennen und zu beachten. Nun kann man sicher nicht jederzeit jede Regel und alle damit verbundenen möglichen Eventualitäten parat haben. Das ändert aber nichts daran, dass man sich zumindest bemühen sollte!
Und noch mehr: Wenn man die Regeln nicht kennt, dann ist es eine grobe Unsportlichkeit, irgendwas zu behaupten. Wer weiß, wie schlecht es um die eigene Regelkenntnis bestellt ist, täte besser daran, die gemeinsame Grundlage für unseren Sport ab und zu zu lesen und eine Druckversion bei Turnieren parat zu haben – anstatt regelwidrig auf irgendwelchen selbst erdachten Absurditäten zu beharren.
Elende Korinthenkacker!
Manchmal denke ich, dass ich auf offensichtliche Regelverstöße des Gegners mit selbst ausgedachten Regeln reagieren könnte. Das wäre allerdings aufgrund des Rechtsgrundsatzes, dass es im Unrecht keine Gleichbehandlung gibt, nicht anzuraten. Im Zweifel würde ich disqualifiziert, der Gegner nicht.
Trotzdem ist es ein reizvoller Gedanke, auf die Ignoranz mancher BoulistInnen mit einer Portion Kreativität zu reagieren. So könnte ich beispielsweise mein würfeliges Cochonnet mit 35 mm Kantenlänge und einem Gewicht von 38 Gramm hervorkramen und das bisher in einer Partie benutzte mitten in einer Aufnahme kommentarlos austauschen. Auf einen möglichen Einwand hin behaupte ich dann, dass nur genau solche Zielwürfel zugelassen wären.
Sollte die Partie trotzdem nicht gut laufen, male ich ein paar Punkte auf mein eckiges Cochonnet, würfle eine Sechs und darf deshalb eine misslungene Kugel ans Cochonnet legen. Soll sich der Gegner doch bloß nicht so anstellen, dieser Korinthenkacker!
- Nun, erwarte nicht, dass hier der besagte, aktuelle Artikel der internationalen Pétanque-Regeln zitiert wird. Diese Rubrik „Regeln? Mäßig!“ soll ja gerade dazu anregen, sich damit auseinanderzusetzen. Auseinandersetzen wäre wohl mehr, als nur kurz zu konsumieren, oder? ↩
- Der DPV machte aus dem Originaltitel „Règlements officiel pour le Sport de Pétanque“ in der deutschen Übersetzung „Offizielle Pétanque-Spielregeln“. Was hat man sich dabei gedacht, als der Sport auf der Strecke blieb? ↩
- Tatsächlich hatte ich die Einführung der Karten mitbekommen, was ich aber nicht verrate, um die flache Pointe anbringen zu können. ↩
- Aus dem Reglement des Coupe d’Hiver: „Die beiden Spielenden einigen sich im ersten Spiel der Begegnung vor dem allerersten Sauwurf darauf, ob auf dem vorhandenen Spielgelände Terra Libre oder in einer abgegrenzten Bahn gespielt wird. […] sollte es keine Einigung geben (was ist mit Euch los?) hat der Gastspieler das Recht, im ersten Spiel der Begegnung die Bahn/Terra Libre auszuwählen.“ (sic!) ↩
- Aus dem Reglement zum Coupe d’Hiver: „Es wird nach den gültigen Pétanque Regeln gespielt …“ (nochmal sic!) Wie nötig dieser Hinweis des Veranstalters auf das Reglement war, ist mir dann im Laufe der Zeit immer deutlicher geworden. Wie sinnlos der Hinweis war ebenfalls. ↩
- Artikel 5 Absatz 2 der zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses Artikels im Mai 2025 gültigen internationalen Regeln besagt, dass Spielfelder mit Schnüren begrenzt sind. Eine Kante – gleich welcher Art – kommt weder in den Regeln vor noch wurde sie bei der Übersetzung aus dem Französischen vergessen. ↩
- Die oben zitierte „Erläuterung“ des DPV ist eine Fußnote zu Artikel 5 Absatz 2 der deutschen Übersetzung des internationalen Reglements der F.I.P.J.P. Diese Erläuterung des DPV verkennt den Sinn und Zweck der betreffenden Regelung auf eklatante Weise: Es soll eine möglichst klare Situation geschaffen werden, die Streitigkeiten reduzieren hilft, ob eine gespielte Kugel im Aus ist oder nicht. Eine Kreidelinie, wie sie beispielsweise der oberste Regelhüter des DPV bei den Turnieren seines Vereins in Hain-Gründau einsetzt, schafft diesbezüglich keine Sicherheit. ↩
- Den Punkt am Ende des DPV-Zitats habe ich spendiert, damit wenigstens die Regeln der Rechtschreibung eingehalten werden. ↩
- Was ein Hindernis ist, hat der DPV in seiner Auslegung vom 22.9.2021 durch den DPV-Schiedsrichterausschuss definiert. ↩
- In dem Dokument des DPV-Schiedsrichterausschusses „Umgang mit Hindernissen“ vom 29.9.2021 wird das Thema weiter ausgeführt. ↩
- Wie nötig dieser Hinweis war, ist mir dann im Laufe der Zeit immer deutlicher geworden. Wie sinnlos der Hinweis war ebenfalls. (Warum kommt mir dieser Fußnotentext bekannt vor?) ↩
- Artikel 39 Absatz 8 lautet: „Während der Spiele herrscht Rauchverbot, […]“ ↩
- Das Zitat stammt aus der Satzung des Deutschen Pétanque-Verband e. V. vom 3. Dezember 2017; zuletzt abgerufen am 21. Mai 2025 ↩