Einige Wochen später. Wir waren längst wieder im Alltagstrott. Die Reise nach Südfrankreich war nicht vergessen. Das doch etwas verstörende Erlebnis in Freiburg war – verdrängt.1 Der frühe Herbst meinte es gut mit uns BoulistInnen und ich fuhr voller Freude zum Boulodrome Brachttal. Alles war wie immer: Auswurf, ich wurde mit – nennen wir ihn hier mal aus Gründen der Anonymisierung – Jacques zusammen gelost. Es sollte meine Abschiedspartie in Brachttal sein.
Die Büchse der Pandora
Die Artikelserie besteht aktuell aus zwei Folgen:
Zwei weitere Folgen sind geplant.
Jacques hatte im letzten Jahr begonnen, Kugeln zu werfen. Er war nicht unbegabt, aber seine Entwicklung wurde bald merklich langsamer. Darauf zu wetten, dass ihm eine große Karriere als Boulespieler bevorstand, wäre verbranntes Geld gewesen. Ich vermutete, dass sein Interesse am Pétanque weit geringer war als die Möglichkeit, sich zu unterhalten. Trotzdem sollte ihm etwas gelingen, was wohl niemand ahnen konnte: Jacques sollte die ganz gut funktionierende Boule-Szene in Brachttal mehr als durcheinander bringen.
Spielerisch war es bei ihm nicht anders als bei vielen AnfängerInnen: Zu Beginn zeigte er ab und zu überraschend gute Würfe. Dann kam es nach kurzer Zeit so, wie es oft zu beobachten ist.2 Die guten Würfe fielen ihm ersichtlich schwerer. Über Monate hinweg waren weder technische noch taktische Verbesserungen erkennbar. Genau genommen machte Jacques nicht mal den Eindruck, als wenn ihn das interessierte. Angebote, am Training teilzunehmen, lehnte er ab. Es ist sicher nicht nötig zu erwähnen, dass das legitim ist. Jede und jeder kann sich selbstverständlich so entscheiden. Auch Jacques.
Genauso selbstverständlich ist es, dass andere sein Spiel bewerten. Hätte man das getan, wäre man ohne Zweifel zu einem recht deutlichen Ergebnis gekommen: Spielerisches Feingefühl oder gar taktischer Überblick waren nicht sein Ding. Ein Team-Gedanke war in seinem Spiel nicht erkennbar.
Er war das Paradebeispiel eines Spielers, der seine Kugeln ohne Rücksprache wirft und die eigenen Team-Mitglieder ihre Kugeln nach deren Gutdünken spielen lässt. Wie gut das Dünken ist – oder vielleicht auch wie schlecht – ist bei diesem Spielertypus unerheblich. Analysen, strukturiertes Vorgehen oder eine Planung über die nächste zu spielende Kugel hinaus fanden bei Jacques nicht statt. Die Frage an den eigenen Mitspieler: „Soll ich mal versuchen?“ kommt mir in den Sinn, wenn ich über sein Spiel nachdenke. Sie ist der klassische, wenngleich ungewollte Ausdruck weitgehenden Unverständnisses des Pétanque-Sports.
Nicht förderlich war zudem, dass Jacques sein am Anfang vorsichtiges Spiel abgelegt hatte. Das führte schon mal zu einer letzten Kugel, die er mit ordentlich Karacho in Richtung des Cochonnets und des Metallgeraffels warf, das da irgendwo herumlag. Die Hoffnung, dass sich dadurch irgendwas zu seinen Gunsten ändern würde, bestimmte sein Spiel. Wie oft hatte ich es erlebt, dass er die einzige gute Kugel seiner Mannschaft auf diese Weise immens gefährdete?!
Nun, die Dinge hängen zusammen: Er hatte in der Regel auch keinen Überblick über die Spielsituation. Wie auch? Sein Platz war meist am Wurfkreis. Machte er sich doch einmal auf in die Richtung, wo über die Punkte entschieden wurde, kam er meist nicht dort an. Er stoppte, wo andere standen, mit denen er reden konnte. Nicht über das Spiel, wohlgemerkt, sondern über irgendein Thema. Ich will nicht ungerecht sein: In unbedachten Momenten redete man vielleicht tatsächlich über das Spiel.
Es war nicht zu überhören: Für Jacques lag der Schwerpunkt der Spieltage auf unserem Boulodrome auf dem Quasseln. Dass das ewige Gerede manche störte, bemerkte er nicht. Dass es schlecht für sein eigenes Spiel war eben so wenig. Dass es gegen die Pétanque-Regeln3 verstößt, hat er vermutlich nicht mal gewusst. Ich bin ziemlich sicher, dass er die Regeln nie gelesen hat. Falls ich mit dieser Annahme irre, war sein Interesse daran so gering, dass wenig davon hängen geblieben ist.
Manchmal aber wurde auch er, wurden alle kurz still: In diesen Momenten stand ich im Kreis und warf meine Kugel wegen des unaufhaltsamen Geschnatters nicht. Ich wartete auf Ruhe. Irgendwann bemerkten die Quassler dann doch, dass diese Nebensache, wegen derer sie ja vielleicht auch hier waren, nicht weiterging. Verwirrung. Der Redefluss stoppte. Kurz. Nur für den Augenblick. Danach ging das Gequassel unbeeindruckt weiter.
Mir war in diesen Situationen klar: Der Störenfried war ich.
Nun waren Jacques und ich wieder einmal zusammen ausgelost. Wir hatten in den letzten Wochen einige Partien als Team gespielt – und regelmäßig erbärmliche Leistungen abgeliefert. „Schönes Spiel!“, meinte Jacques zu mir – weil man das eben so sagt. „Mir wäre ein gutes Spiel lieber, aber das haben wir seit Wochen nicht geschafft, wenn wir zusammen spielten“, entgegnete ich.
Nein, ich war nicht unfreundlich, nicht mal im Ansatz. Ich war ehrlich. Ich wünschte mir, dass ich mit ihm zusammen besser spielen, dass ich ihn irgendwie erreichen könnte. Es müsste doch möglich sein, dass unser Spiel als Team besser würde?!
Auf die übliche Frage meinerseits zu Beginn der Partie meinte Jacques, dass ich schießen solle. Er würde legen. Darüber hinaus war mein sonst so redseliger Partner ziemlich still, zumindest mir gegenüber. Mit den Gegnern wurde geplappert wie eh und je.
Apropos Gegner: Die hatten gerade durch Anspielen einer eigenen Kugel zwei Punkte am Boden. Eine der beiden lag relativ nahe vor dem Cochonnet. Folglich mussten wir die nächste Kugel spielen. Legen oder Schießen? Es war eine Frage, wie sie in jeder Partie mehrfach vorkommt – und ich war der Ansicht, dass Jacques und ich diese Entscheidung in dieser Situation gemeinsam im Team fällen sollten:
Wir hatten noch mehrere Kugeln, der Gegner deutlich weniger. Ein Schuss würde recht wahrscheinlich nicht den Punkt bringen – aber ein Treffer hätte auch die Lage des Cochonnets verändern können. Ein Fehlschuss wäre Grund zur Besorgnis über den Ausgang der Aufnahme gewesen. Also lieber legen? Die Distanz war groß. Wie eng war der Spielstand? Wo lagen unsere bereits gespielten Kugeln?
Egal wie die Entscheidung ausfallen würde: Es stand ein Spielzug an, der vom Team getragen werden musste. Also fragte ich Jacques nach seiner Einschätzung: „Was sollen wir machen, gibt’s Meinungen?“ Was dann folgte, damit hatte ich nicht gerechnet. Jacques explodierte.
Ich sah mich einem unerwarteten emotionalen Ausbruch gegenüber. Ich sei unverschämt, würde ihn bloßstellen – und überhaupt würde es keinen Spaß machen, mit mir zu spielen. Das war nicht nur so daher gesagt. Jacques verlieh seiner Aussage Nachdruck, indem er seine Abneigung recht lautstark über den Platz schallen ließ. Er sammelte seine Kugeln ein und verließ das Spielfeld.
Auf meine Äußerung, dass Pétanque ein Teamsport sei und man sich in manchen Situationen besprechen müsse, reagierte er mit weiteren, lauten Beschimpfungen. Ich war baff. Hatte ich nicht mit demselben Jacques noch vor Wochen zwei harmonische Tête-à-têtes gespielt, zwischen den Partien meinen Rosé mit ihm geteilt?
Jetzt schwebte Unheil über dem Platz. Unsere Gegner verdrückten sich betont unauffällig ins Gebüsch – sehr offensichtlich, um hier nicht Stellung nehmen zu müssen. Einer davon war Vorstandsmitglied des Vereins. Anstatt seine Aufgabe wahrzunehmen, war er noch schneller weg als sein Spielpartner.
Jacques erklärte mir aufgebracht und lautstark, dass er nicht mehr mit mir spielen würde. Ich dachte an Freiburg, packte meine Sachen und fuhr heim. Ausgegrenzt auf der Bank sitzen wie jener Spieler am Neuen Wiehre Bahnhof, das wollte ich nicht.
Jacques hatte die Büchse der Pandora für unseren kleinen Verein geöffnet.
- Das Erlebnis in Freiburg wurde in Folge I der Pandora-Serie geschildert: Freiburger Antipathien. ↩
- In dem boulevardesken Artikel Ballast der Technik habe ich im November 2023 eine Glosse über das Phänomen der häufig zu beobachtenden Entwicklung von Anfängern geschrieben. ↩
- Regelmäßige LeserInnen von Franks Pétanque werden diesen Hinweis auf die Regeln in der Regel sehr hoffentlich nicht benötigen. Artikel 17 der im Jahr 2024 gültigen internationalen Pétanque-Regeln lässt sich unter anderem über das Verhalten der Spieler aus: „Während der regulären Zeit, die ein Spieler benötigt, um seine Kugel zu spielen, müssen die anderen Spieler […] äußerste Ruhe einhalten.“ Das sollte bereits für ein faires und gesittetes Spiel ausreichen, jedoch hatten die RegelhüterInnen da wohl ihre Zweifel. So legten sie nach: „Die Gegner dürfen weder umhergehen, noch gestikulieren oder irgendetwas tun, was den Spieler stören könnte. Nur die Partner des Spielers dürfen sich zwischen der Zielkugel und dem Wurfkreis befinden.“ Nötig sind diese zwei Sätze allemal, wenn man sich auf deutschen Bouleplätzen umschaut. Das heißt allerdings nicht, dass sie auch befolgt werden. ↩