Boulevard

Geschichten rund ums Pétanque

Bal­last der Technik

von | Nov. 2, 2023 | Boulevard

Datum

2. November 2023

Autor

Frank J.

Ach ja, die Tech­nik! Sie ist neben der Tak­tik und der Kopf­sa­che – in die­sem Hohl­kör­per geht viel mehr ab, als man denkt! – der wich­tigs­te Fak­tor beim Pétan­que. Wie macht man es rich­tig? Drei Spie­le­rIn­nen, vier Mei­nun­gen. Wenn das man reicht.

Erfah­re­ne Boulis­tIn­nen wis­sen: Oft sind es Klei­nig­kei­ten der eige­nen Wurf­tech­nik, die über den Erfolg oder Miss­erfolg einer Kugel ent­schei­den. Um die­se Klei­nig­kei­ten wahr­zu­neh­men, muss man sich selbst beob­ach­ten. Jeden­falls solan­ge man nicht „im Flow“ ange­kom­men ist und sowie­so alles von allei­ne klappt.

Und da spielt dann plötz­lich die­ser Neue mit uns, der die Boule umfasst, als müs­se er eine schwe­re Bow­ling­ku­gel hal­ten. Die ers­te Pétan­que-Kugel sei­nes Lebens spielt er tat­säch­lich mit offe­ner Hand! Naja, Anfän­ger eben.

Das war schon nicht schlecht – jetzt noch fünf Meter kürzer!

Bal­last der Technik

Sei­nen Arm hält er vor dem Kör­per, legt alle Kraft in den Wurf. Natür­lich hat er abso­lut kei­ne Ahnung und meint wahr­schein­lich, dass er ein­fach so an die Sau legen kann. Ein­fach so, ohne all die tech­ni­schen Fines­sen, die wir in vie­len Par­tien selbst kaum ergrün­det haben! Wir drü­cken instän­dig alle Dau­men, dass ihm das auf die­se völ­lig unaus­ge­reif­te Art nicht gelin­gen möge. Schließ­lich hal­ten unse­re mit äußers­ter Acht­sam­keit gespiel­ten Kugeln ja auch nach jah­re­lan­ger Pra­xis viel zu häu­fig einen erstaun­li­chen Abstand zur Ziel­ku­gel. Da soll­te die­ser Neue doch wohl nicht …

Zur all­ge­mei­nen Erleich­te­rung – die sich nie­mand anmer­ken lässt – geht der ers­te Wurf des Neu­en mit offe­ner Hand selbst­ver­ständ­lich schief: Die Kugel liegt irgend­wo am Ende des Plat­zes. Den hoch­er­freu­ten Aus­ruf des Novi­zen: „Oh, fast getrof­fen!“, nach­dem sei­ne kurz hin­ter dem Wurf­kreis auf den Boden geschleu­der­te Boule einen Meter an der Sau mit einem Tem­po vor­bei­tobt, als müs­se sie es bis La Cio­tat1 schaf­fen, quit­tie­ren wir mit einem ver­steck­ten Lächeln, dem eine gewis­se Zufrie­den­heit nicht abzu­spre­chen ist.

„Das war schon nicht schlecht – jetzt noch fünf Meter kür­zer!“, so wird der Neu­ling mit gespiel­ter Begeis­te­rung bei Lau­ne gehal­ten. Wäh­rend­des­sen wird unser dezen­tes Tip­pen mit der Schuh­spit­ze neben dem Cochon­net etwas energischer.

Für uns ist das alles nicht über­ra­schend, denn wir ken­nen den hilf­rei­chen Effekt des Rückd­ralls, den unser eif­ri­ger Anfän­ger ja erst noch ent­de­cken muss. Even­tu­ell erin­nern wir uns ja auch noch an unse­re ers­ten Würfe?

Egal, jetzt ist der Augen­blick gekom­men! Wir legen uns das gesam­te Arse­nal an Rat­schlä­gen zurecht und prah­len mit sach­kun­di­gen Ant­wor­ten auf ele­men­ta­re Fra­gen, die nie­mand gestellt hat: Wie also hält man eine Kugel rich­tig in der Hand? Soll­te der Wurf­arm gestreckt sein? Nutzt man eher Schwung oder Kraft? Was macht der ande­re Arm wäh­rend des Wurfs? Soll­te der Ober­kör­per leicht gebeugt sein, gar unter­stüt­zend bewegt wer­den? Und die Füße – gaa­anz wich­tig: Wie soll­te man stehen?

Die Lis­te der mög­li­chen Tipps ist weit, weit län­ger. Sie ist so lang, dass unser Anfän­ger sich natür­lich nichts davon mer­ken wird, was wir ihm an Boule-Weis­hei­ten ver­mit­telt haben. Auch die­ses Phä­no­men ist nicht neu.

Wir prahlen mit sachkundigen Antworten auf elementare Fragen, die niemand gestellt hat.

Kann man machen.

Eine Woche spä­ter, nächs­ter Ter­min. Der Anfän­ger ist wie­der dabei. Sehr ersicht­lich hat er alles, naja, fast alles ver­ges­sen, was ihm vor ein paar Tagen in epi­scher Brei­te erklärt wur­de. Immer­hin: An den Hand­rü­cken über der Kugel erin­nert er sich noch. Aber das war’s auch schon.

Ohne all den ande­ren Bal­last aber spielt er – beein­dru­ckend gut. Ken­nen wir alle, oder? Das ist wirk­lich nicht unge­wöhn­lich für Anfän­ger­Innen. Unse­re Ver­zweif­lung über die­se unbe­fan­gen, aber erfolg­reich gewor­fe­nen Kugeln wächst umge­kehrt pro­por­tio­nal mit deren Ent­fer­nung zum Cochonnet.

Wozu suchen wir uns eigent­lich sorg­fäl­tigst ein Don­née, geben der Superin­ox mit Anti-Rebond-Effekt – natür­lich ele­gant aus der Hocke gespielt wie ein Quin­tais2 – einen leich­ten Linksd­rall, um an der im Weg lie­gen­den Boule geschickt vor­bei zu legen? War­um ent­fer­nen wir vor jedem Wurf peni­bel jedes Staub­korn vom Stahl? War­um wischen wir die Spiel­hand mehr­fach an der vor­hin sicher noch sau­be­ren Hose ab – wenn der Neue sein pein­lich chrom­glän­zen­des Ikea-Alt­me­tall irgend­wie an die Sau schleu­dert? Und er hat noch nicht mal einen Lappen!

Eines Tages aber, nicht vie­le Wochen spä­ter, da kommt unse­re Stun­de. Plötz­lich gehen dem Neu­en die Kugeln nicht mehr so locker von der Hand. Ha! End­lich! Wir wuss­ten es ja! Mit tie­fer Befrie­di­gung erken­nen wir, wie es in ihm arbei­tet, in die­sem bis­her mit so unver­schäm­ter Leich­tig­keit wer­fen­dem Neu­ling. Kor­ri­gie­re: ehe­ma­li­gen Neu­ling. End­lich ist er da ange­kom­men, wo wir alle schon mal waren – oder immer noch sind.

Wenn die Stirn besser unter Kontrolle ist als der Wurf.

Nicht ver­zwei­feln!

In den plötz­lich tie­fen Fal­ten sei­ner Stirn kann er die Fra­ge nicht ver­ste­cken: Wor­an liegt es, dass heu­te so wenig Wür­fe klap­pen? Neu­lich dach­te unser Neu­er noch an eine stei­le Kar­rie­re als begna­de­tes Leger-Natur­ta­lent – und nun rei­chen sei­ne gespiel­ten Kar­tof­feln für die Spei­sung eines Tri­plet­tes samt Coach und Schiedsrichter?

Das ist nun erneut unser Moment – und dies­mal so rich­tig. Auch, wenn das ja bereits vor Wochen aus­führ­lich durch­ge­kaut wur­de – jetzt tref­fen sie auf offe­ne­re, ja fast wiss­be­gie­ri­ge Ohren: Die Rat­schlä­ge der Erfah­re­ne­ren ergies­sen sich über den Platz und wer­den auf­grund der sicht­ba­ren Ver­zweif­lung des Zuhö­rers von ihm weit bes­ser auf­ge­nom­men. Hof­fen wir. Selbst­ver­ständ­lich ist es auch hier wie immer: drei Spie­le­rIn­nen, vier Mei­nun­gen. Und alle reden auf ihn ein.

In ein paar Mona­ten wird sich unser selbst­ver­ständ­lich lieb­ge­won­ne­ner und bis dahin längst eta­blier­ter Mit­spie­ler selbst trau­en. Dann haben wir eine neue Situa­ti­on, wenn wie­der mal ein Neu­er auf dem Platz erscheint: vier Spie­le­rIn­nen, fünf Mei­nun­gen. Wenn das man reicht.

Zum Hin­ter­grund

Die­ser Text ent­stand im Rah­men des Pro­jekts „Bou­lo­dro­me Bracht­tal“, des­sen digi­ta­ler Able­ger mitt­ler­wei­le ein­ge­stellt wur­de. Der Grund: In der ana­lo­gen Welt des Pro­jekts gab es zu viel Boule, zu wenig Pétan­que und vor allem kei­nen Bedarf an Bou­le­vard.


  1. La Cio­tat ist das klei­ne pro­ven­ça­li­sche Städt­chen, in dem Pétan­que erfun­den sein soll. 
  2. Phil­ip­pe Quin­tais ist einer der erfolg­reichs­ten Pétan­que-Spie­ler der letz­ten 40 Jah­re. 
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