Wir waren auf dem Rückweg von Südfrankreich. Um an dem Tag noch bis nach Hause zu fahren, wäre die Etappe zu lang gewesen. Bei Besançon schauten die Doublette-Partnerin und ich uns an. Wir hatten den selben Gedanken: Freiburg! In unserer Lieblingspension etwas außerhalb übernachten, am nächsten Tag beim phänomenalen Fischstand im Fressgässle zu Mittag essen, vielleicht im Hirschen in Merzhausen zu Abend, zwischendrin ein paar Kugeln werfen – das wäre ein guter Abschluss der Reise. Ohne viele Worte war klar: So wollten wir es machen.
Die Büchse der Pandora
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Das mit dem Essen klappte hervorragend. Das mit dem Boulespielen war schwieriger. Mein Lieblingsplatz am Alten Wiehre-Bahnhof war belegt. Dafür war ich mehr oder weniger selbst verantwortlich, denn ich hatte mich in den 90er Jahren, als ich noch in Freiburg lebte, engagiert dafür eingesetzt, dass dort ein Bauernmarkt etabliert wurde.1
Diesen an sich schon wunderbaren Treffpunkt gibt’s heute immer noch: An „normalen“ Tagen ist da ein kleines Café, man sitzt draußen unter Bäumen, spürt abends die gespeicherte Wärme der Sandsteine des alten Bahnhofsgebäudes – der Ort war immer besonders. Und dann ist er eben auch noch ein anspruchsvoller Bouleplatz.
Der kleine Markt ist bis heute eine Bereicherung des Stadtteils Wiehre, worauf ich nicht wenig stolz bin. Für uns BoulespielerInnen war der Preis, dass wir an den Markttagen dort keine Kugeln werfen konnten. Und genau so war’s, als die Doublette-Partnerin und ich ein wenig spielen wollten.
Natürlich kannte ich den Ausweichplatz. Wenige Schritte entfernt liegt ein kleines Boulodrome am Neuen Wiehre-Bahnhof. Früher hatte Mugges2 dort eine seiner Gastwirtschaften. Ein klassisches Bahnhofsrestaurant, wie man es früher häufig antraf, heute aber fast gar nicht mehr findet: Gute Küche, schönes Ambiente – und irgendwie hatte er es geschafft, auch ein Boulegelände anzulegen.
Als ich am Neuen Wiehre-Bahnhof ankam, war ich überrascht: Ich kannte niemand. Fremde Gesichter. Nun gut, der Verein, den ich vor mehr als 27 Jahren gegründet hatte,3 dürfte kaum noch Mitglieder von damals haben. Aber irgend eine BewohnerIn aus der Umgebung hätte doch …? Naja, so war es aber nicht. Umgekehrt ging es den anwesenden BoulistInnen ebenso: Selbstverständlich kannte mich niemand.
Ich packte die Kugeln aus und signalisierte damit Spielbereitschaft. Das klappte und ich durfte mitmachen. Einige Zeit später kam die Doublette-Partnerin dazu. Ihre Art ist in solchen Momenten eher zurückhaltend, fast schüchtern. Aber auch sie wurde angesprochen – die verbindende Wirkung des Pétanque funktionierte. So soll es sein.
Was weniger klappte, das war die Bildung ihres Teams. Ich spielte nebenan und bekam die Situation mit. Eine Spielerin wollte gerade gehen, so dass nur noch sieben BoulistInnen bereit waren. Die Doublette-Partnerin wies auf einen einzelnen Spieler hin, der auf einer Bank saß. „Mit ihm wären wir zu acht.“ Es war unmöglich nicht zu bemerken, wie sich einige SpielerInnen versteiften. Eine Einheimische raunte – aber ich konnte es trotzdem hören: „Die da drüben und wir spielen nicht miteinander.“ Die Büchse der Pandora4 stand hier offensichtlich bereits länger offen.
Irgendwie fand man dann noch jemand – allerdings wurden die leise erwähnten Gräben nicht überwunden. Der Mann auf der Bank blieb sitzen, es wurde eine andere Person eingebunden.
Was mag da vorgefallen sein, dass solche Differenzen entstehen konnten? Wie bitter war es, dass da ein Spieler ausgegrenzt wurde, der möglicherweise ganz gerne noch eine Partie gespielt hätte? Oder ging die Ablehnung von ihm, von seiner Gruppe aus? Ich spielte ja gerade selber – und konnte die Details folglich nicht ergründen. Danach mussten wir los – keine Zeit für Fragen. Es warteten eine Tischreservierung und ein hoffentlich gutes Essen im Hirschen5 auf uns.
Auf der Fahrt nach Merzhausen dachte ich: Wie gut, dass so etwas bei uns in Brachttal nicht möglich ist. Damals, im September 2024, wusste ich noch nicht, wie sehr ich mich irren sollte.
- Die Einrichtung des Bauernmarkts fand zu meiner Zeit in der Freiburger SPD statt. Es war meine erste Parteimitgliedschaft überhaupt. Nachdem ich Bekanntschaft mit dem Gemauschel und den internen Machtspielchen bei den Sozis gemacht hatte, trat ich dort aus. Rückblickend muss ich erkennen, dass es irgendwie auch herrlich unterhaltsam war, die Protektion völlig talentloser Jungpolitiker (es waren damals nur Männer) mitzubekommen und somit viel über das politische Geschäft zu lernen. Auf ähnliche Weise müssen die Dobrindts, Spahns, Schröders und Al-Wazirs aufgestiegen sein. Auch wenn diese kleine Liste parteipolitische Ausgeglichenheit anstrebt und lediglich exemplarisch einige Inhaber politischer Ämter aufführt, die sehr wahrscheinlich an ihrer gut erkennbaren Inkompetenz scheiterten (und teils trotzdem noch lukrative Karrieren hinlegten), so muss ich hier aus Gründen meiner politischen Verachtung wenigstens noch Klöckner und Scheuer anfügen – sozusagen ein Doppelwumms gegen das verlogene politische „C“. ↩
- Den Namen „Mugges“ kennen alle aufmerksamen LeserInnen aus dem Interview mit Michael Hornickel. ↩
- Die Gründung des Vereins Spielgemeinschaft Wiehre habe ich als kurze Episode im Artikel Grouchos Club verarbeitet. ↩
- Eine Erklärung des Begriffs „Büchse der Pandora“ findet sich – natürlich – auf Wikipedia. ↩
- Es sollte ein guter Abend im Hirschen in Merzhausen werden. Ich war allerdings vorher nicht ganz sicher, denn vor vielen Jahren herrschte dort eine lokale Schickeria-Gruppe von Personal und Gästen über den Laden. Fremde – und die konnten durchaus aus dem nahegelegenen Freiburg stammen – wurden schon mal nicht bedient. Nach all den Jahren erwarteten uns nun allerdings eine freundlich Atmosphäre und gutes Essen. ↩