Vor Jahren behauptet das Schmierblatt Bild: „Wir sind Papst!“ Jüngst stellte das weit seriösere Online-Magazin Pétanque aktuell ganz aktuell die These auf: „Wir sind Europameister!!!“ 1 Schon mit dem Papst hatte ich so meine Zweifel. Noch mehr Kopfzerbrechen macht mir allerdings die Sache mit dem Europameister. Wie kann es sein, dass ich mit meinem miserablen Spiel einen solchen Titel zugewiesen bekomme?
Ich bin nicht sicher, was ich lieber nicht wäre: Papst oder Pétanque-Europameister. Als Papst bin ich nicht geeignet. Schon deshalb, weil mir diese weiten Kleider nicht gut stünden, vor allem aber, weil ich Atheist bin. Ich könnte sicher keinen guten Draht nach oben pflegen, was nach meinem Verständnis zu den Kernaufgaben des Oberhirten gehört. Vor Jahren hatte ich es mal probiert, aber es ging nie jemand ran. Eigentlich war ich darüber ganz froh, denn mein Latein ist lausig.
Nun sind wir also Europameister, wenn man Pétanque aktuell glauben schenkt. Also auch ich. Hmm, die haben mich wohl noch nie spielen gesehen. Nein, „Wir sind Europameister!!!“ kann auf mich nicht zutreffen – auch wenn das Online-Magazin die Behauptung mit drei Ausrufezeichen ziemlich nachdrücklich aufstellte.
Papst wurde ich ja bekanntlich im April 2005 – ungefragt, wie wir alle. Ich widersprach damals aber nicht, denn ich hatte anderes zu tun. Ich war sicher kein guter Papst, aber ich hatte das Amt ja auch nur bis zum Februar 2013 inne, als Joseph Alois Ratzinger alias Benedikt XVI. auf sein Amt verzichtete. Auch dazu wurde ich nicht gefragt – und schwupps! – war ich den Job ohne mein Zutun los. Ich sehe das dem tüdeligen alten Mann nach. Gefehlt hat mir jedenfalls nichts, nachdem ich nicht mehr Papst war.
1974: Wir sind Weltmeister!
Als Kind wollte ich beim Bolzen Günter Netzer sein – schon wegen seiner rebellisch langen Haare, aber auch, weil er tolle Außenristpässe spielen konnte. Bei meinen fußballerischen Fähigkeiten hätte ich mich besser für „Katsche“ Schwarzenbeck als Vorbild entschieden. Den Ball verstolpern konnten wir beide ganz gut.
Nie aber wäre ich auf den Gedanken gekommen, die Weltmeistermannschaft von 1974 mit einem „wir“ für mich und den Rest der Republik zu vereinnahmen. Hoffe ich jedenfalls heute – und wenn es dann doch anders gewesen sein sollte, habe ich wohl einfach die peinlichen Fakten ausgeblendet. Mein verschämter Erklärungsversuch für diesen Fall: Es war die pubertäre Verwirrung eines damals Sechzehnjährigen.
Aufgefrischt!
Aufmerksame LeserInnen hatten wahrscheinlich mein Unbehagen hinsichtlich der Formulierung „Wir sind Europameister!!!“ zu Beginn dieses Artikels bemerkt und können sich daran auch noch erinnern. Andere werden wegen nicht von der Hand zu weisender Weitschweifigkeit meine Abneigung gegen die Vereinnahmung möglicherweise bereits wieder vergessen haben. Ich frische also besser nochmal auf:
So ein „wir“ ist Bildzeitungsniveau. Nein, wir sind nicht Europameister. Auch der Verband ist nicht Europameister. Der Coach hat zwar eine Medaille bekommen,2 ist aber höchstens Trainer3 der Europameister. Pétanque aktuell ist ebenfalls nicht Europameister – und ich bin’s grad schon gar nicht.4 Europameister ist alleine das Team, das der DPV gemeldet und das gespielt hat.
Immerhin hat Jannik Schaake auf Pétanque aktuell einen wirklich guten Nachbericht zur Europameisterschaft geschrieben.5 Die nachträglich formulierten, sehr vernünftigen Einschätzungen und seine fachliche Expertise lindern mein Unbehagen über das wohl aus seiner Feder stammende „wir“ doch erheblich. Guter Artikel, Pétanque aktuell!
Nein: Sie sind Europameister
Mein Respekt gehört der Leistung der vier Spieler, die in Santa Susanna eingesetzt wurden: Moritz Rosik hatte brillante Legephasen. Tobias Müller beeindruckte im späteren Verlauf des Turniers als sein Ersatz, wenn Moritz einen kleinen Einbruch hatte. Matthias Laukart schoss und traf was das Zeug hielt. Je länger das Turnier dauerte, ging es meist nur um die spannende Frage, ob’s ein Palet, ein Retro oder ein Sur Place werden würde.
Daniel Reichert spielte erst ab der dritten Partie – wurde auch danach mal nicht eingesetzt (was aufgrund der völlig unzureichenden Berichterstattung des DPV nirgends dokumentiert oder gar erklärt wurde). Ab dem Achtelfinale gegen Italien spielte er sich dann in der Mannschaft fest. Die anspruchsvollste Aufgabe im Team – die Rolle als Milieu – löste er hervorragend. Bereits 2024 bei der Weltmeisterschaft in Dijon empfand ich seine Leistung als herausragend in der deutschen Mannschaft.
Freude und Hoffnung
Wir sollten den Augenblick genießen – unter anderem auch deshalb, weil viele von uns die Europameister schon mal irgendwo live auf einem Turnier sehen konnten, vielleicht sogar eine Partie gegen den einen oder anderen bestritten haben oder sie gar persönlich kennen. Das führt zu mehr Nähe, möglicherweise gar zu einer Identifikation und größerer emotionaler Betroffenheit. Und wir sollten den Augenblick auch deshalb genießen, weil wohl niemand damit gerechnet hat, dass so etwas passieren könnte.
Vielleicht hilft dieser besondere Augenblick des deutschen Pétanque auch, dass das Niveau des Pétanque in unserem Land verbessert wird. „Lass uns lieber noch eine beilegen“, mit dieser bei uns weit verbreiteten Einstellung hätten unsere Helden in Santa Susanna wohl den üblichen geteilten neunten Platz geholt.
Auch, dass man bei einem Schuss nicht einfach mal in die Menge zielt und dann schaut, was dabei rauskommt, sondern Kugeln fein säuberlich attackiert werden – was man tatsächlich ernsthaft trainieren kann (vielleicht sogar ohne ständiges, rücksichtsloses Gesabbel) – das könnte sogar bei meinem Club in Brachttal angekommen sein. Wenn man sich denn dort für gepflegtes Pétanque interessierte …
Den Petersdom im Dorf lassen
Über den Erfolg von Santa Susanna wird nun vielerorts überschwänglich und vereinnahmend gejubelt. Ich weiß nicht, ob jemand dabei in Erwägung gezogen hat, dass dann fairerweise auch die Niederlagen der Vergangenheit genauso mit einem „wir“ vereinnahmt werden sollten.
Hat beispielsweise nach dem 34. Platz bei der WM 2016 auf Madagaskar jemand geknickt gedacht: So ein Mist, „wir“ haben heftig verloren – und ist auf den Platz gegangen, um noch mehr zu trainieren? Oder wurden „wir“ im selben Jahr mit manipulierten Kugeln auf der Triplette-EM in Monaco erwischt? Nein, ich vermute, für die nicht so guten Augenblicke sind dann ausschließlich die direkt agierenden Spieler verantwortlich.
Lassen wir den Spielern ihren Erfolg. Hoffen wir, dass der Verband sie bestmöglich unterstützt hat. Freuen wir uns, dass unsere finanziellen Beiträge, die jede/r Lizenzspieler/In geleistet hat, dazu geführt haben, dass ein achtköpfiges DPV-Team nach Spanien reisen und die Spieler sich dort unter besten Bedingungen vorbereiten konnten.6
Das verflixte zweite Jahr
Wie wird es nach diesem Erfolg weitergehen mit dem deutschen Pétanque? Fußballinteressierte kennen die Weisheit: Nach dem Aufstieg die Klasse zu halten, das funktioniert häufig überraschend gut. Die Leistung aber im darauffolgenden Jahr zu bestätigen, ist sehr oft sehr schwierig.
Um den Stand in der Spitze des deutschen Männer-Pétanque tatsächlich beurteilen zu können, wird es also darauf ankommen, auch auf schwierigeren Böden als in Santa Susanna solide Leistungen zu erbringen. Wie Jannik Schaake in seinem Kommentar gut herausgearbeitet hat, kam der Boden bei der EM einem schießfreudigen Team sehr entgegen. Und gut geschossen haben sie tatsächlich, die neuen Europameister! Sogar sehr gut!
Es ist zu hoffen, dass die Mannschaft in dieser Zusammensetzung weitere internationale Auftritte haben wird und zeigen kann, dass sie auch unter anderen Umständen so souverän zu spielen in der Lage ist. Und wenn das nicht klappen sollte, dann wird es kein Beinbruch sein – denn schließlich sind die neuen Europameister keine Päpste und ihre Kugeln nicht unfehlbar.
Um es klar zu sagen: Nein, ich möchte mir dieses „wir“ nicht antun. Ich möchte kein ungefragter Europameister sein. Mir reicht es völlig aus, diese Meisterschaft in Santa Susanna (so gut oder vor allem schlecht es im Live-Stream ging) verfolgt und mich an den überraschenden Leistungen der deutschen Spieler erfreut zu haben. Dass ich dabei in der Betrachtung eher nüchtern und auf etwas Abstand zum Freudentaumel bleibe, liegt wohl an meiner Zeit als Papst.
- Artikel auf Pétanque aktuell vom 20. Juli 2025; zuletzt abgerufen am 30. Juli 2025 ↩
- Nach den Regularien (European Championship Rules 2025–26, siehe Punkt 20.02) des Veranstalters der Europameisterschaft, der Confédération Européenne de Pétanque (CEP), erhalten die SpielerInnen der vier Top-Teams und deren Coaches Medaillen. ↩
- Vielleicht ist Sascha Koch noch nicht einmal Trainer. Zumindest keiner mit einer Trainerlizenz, denn in der Trainerliste des DPV tauchte er auch früher (letzter Fund: 24. September 2024) nie auf. Stand heute (30. Juli 2025 ) ist die Trainerliste des DPV leer. ↩
- Ich konnte ja noch nicht mal Vereinsmeister in Brachttal werden, weil die Mullahs meines Vereins mich als „in Ungnade gefallenes“ Mitglied (die Formulierung stammt aus einem öffentlichen Kommentar des DPV-Präsidenten Michael Dörhöfer auf Facebook, der mangels Argumenten die Gelegenheit nutzen wollte, mich ein wenig zu diffamieren) nicht darüber informiert haben, dass diese Meisterschaft stattfindet. So konnte ich um den von mir gestifteten Pokal, der ausdrücklich nicht für eine Vereinsmeisterschaft gedacht war, nicht mitspielen. Mögen ihnen die Bärte abfallen! Die haben kaum welche? Ach, auf nichts ist Verlass. ↩
- Zum lesenswerten Artikel auf Pétanque aktuell; zuletzt abgerufen am 30. Juli 2025 ↩
- Manche Teams wie Armenien oder Jersey haben nicht mal einen Ersatzspieler vor Ort gehabt. ↩